Selbst die Wolga war uns nicht zu weit
Nach Paris im letzten Jahr führte unsere jüngste Konzertreise nach Russland, nach Rostow-Welikij. Dies ist eine russische Kleinstadt mit rund 40000 Einwohnern, die 220 km nordöstlich von Moskau liegt und als Bestandteil des „Goldenen Rings“ zur kulturellen Schatzkammer Russlands gehört. Durch die Vermittlung von Hartmut Sippel, einem Religionslehrer unserer Schule, war der Kontakt zustandegekommen. Nach intensiver Vorbereitung machten wir uns vom 9. – 17. Oktober 2000 auf den Weg in das alte Zarenreich voller Spannung darüber, was uns in dem fremden Kulturkreis erwarten würde.
Bei der Planung hatten wir mehrere Verkehrsmittel gegeneinander abgewogen und uns letztlich für die 36stündige Bahnfahrt im russischen Schlafwagen von Hannover nach Moskau entschieden. Dass das erste Abenteuer jedoch schon eine halbe Stunde hinter Hannover begann, als ein Waggon wegen technischer Probleme ausgewechselt werden musste und es zu einer etwa zweistündigen Verspätung kam, damit hatte wirklich niemand gerechnet. Wie sollte es erst in Russland werden, wenn wir bereits in Deutschland nicht vorankamen? Neben dieser etwa zweistündigen Verspätung kam es aber auch an den Grenzen nach Polen und Weißrussland immer wieder zu längeren Wartezeiten, die wir uns mit Notenschreiben und Teetrinken sowie einigen Gesprächen mit dem netten russischen Schlafwagenschaffner Piotr vertrieben. Möglich war dies nur durch die Tatsache, dass uns unsere Dolmetscherin Karin während der gesamten Fahrt begleitete.
Je weiter es Richtung Osten ging, desto mehr wurde uns beim Betrachten der Ortschaften klar, dass der Lebensstandard hier nicht annähernd mit dem in Westeuropa vergleichbar war: Die dürftigen Holzhütten in den russischen Ortschaften und die Armut der Menschen, die an den Bahnhöfen in Weißrussland und Russland versuchten, selbst geerntetes Obst gegen Devisen zu verkaufen, machten jeden von uns nachdenklich und betroffen. Ein besonderes Erlebnis auf der Fahrt war auch die Umstellung des Zuges an der weißrussischen Grenze auf das breitere russische Schienennetz, wobei jeder Waggon angehoben und mit neuen Fahrgestellen versehen wurde. Nach zwei Nächten und eineinhalb Tagen mit insgesamt über drei Stunden Verspätung erreichten wir endlich Moskau, wo wir von unseren Gastgebern bereits ungeduldig erwartet wurden. Nach weiteren vier Stunden, in denen wir mit einem Ikarus-Bus über die endlosen, geraden Landstraßen tuckerten, waren wir dann in Rostow, dem Ziel unserer Reise, angekommen.
Unsere Unterkunft im Kreml der Stadt Rostow lag für russische Verhältnisse über dem Standard, und auch das Essen war besser als in einer deutschen Jugendherberge – eine Tatsache, die wir keinesfalls erwartet hatten. ßberrascht waren wir auch von der Gastfreundschaft der Menschen in Russland, für die westliche Besuchergruppen eine Seltenheit sind. So wurde beipielsweise für uns die Herberge beheizt, obwohl die einheimische Bevölkerung erst ab Anfang November Fernwärme bekommt, und sogar ein kleines Glockenkonzert wurde uns zu Ehren auf einem der Glockentürme im Kreml von einer Musikerin gespielt. Ungewohnt waren hingegen die sanitären Einrichtungen, denn sie standen im Gegensatz zu unserem sonst sehr positiven Eindruck. Aber wir merkten schnell, dass fließendes Wasser und Toiletten mit Wasserspülung in Russland keineswegs zur Standardausrüstung der Häuser gehören, und aus diesem Blickwinkel betrachtet konnten wir auch damit zufrieden sein.
Weil zum Kennenlernen eines Landes auch immer das Gespräch mit den Menschen gehört, war uns der kulturelle Austausch mit den Schülerinnen und Schülern der dortigen Musikschule ein wichtiges Anliegen. Bei der Schule handelt es sich um eine Musikakademie mit Vollzeitstudenten, die dort wesentlich intensiver musikalisch ausgebildet werden als dies bei einer deutschen Musikschule geschieht. Wir hatten hier die Gelegenheit, Chor- und Ballettstunden anzuschauen, und einige von uns nutzten auch die Möglichkeit, mit den zumeist weiblichen Studenten Kontakte zu knüpfen. In diesem Zusammenhang sprachen wir auch unsere Einladung zu einem Gegenbesuch nach Bad Hersfeld aus – ein Vorschlag, der bei den Studenten auf offene Ohren und viel Beifall traf. Immerhin ist es auch Ziel dieser Reise, einen der Völkerverständigung dienlichen Kulturaustausch zu initiieren, aus dem sich fortlaufende partnerschaftliche Beziehungen entwickeln sollen. Keine geringere Institution als der Deutsche Musikrat hat die Bedeutung unseres Vorhabens erkannt und es als ausdrücklich förderungswürdig erklärt.
In den insgesamt sechs Tagen vor Ort standen natürlich viele Exkursionen zu kulturellen Sehenswürdigkeiten auf dem Programm: Museen in Jaroslawl besuchten wir ebenso wie die Stadt Sergejew Possad, eines der Zentren der russisch-orthodoxen Kirche. Dort konnten wir verschiedene Gotteshäuser besichtigen und in einem Kloster auch eine Kostprobe unserer geistlichen Musik geben. Die vielen Kirchen mit ihren prunkvollen Ikonen und den typischen Zwiebeltürmen waren es im übrigen, die uns immer wieder auffielen, weil sie sich in jedem Ort von den restlichen Gebäuden, zumeist Holzhütten, optisch abhoben. Neben den genannten Städten lernten wir auch Sehenswürdigkeiten von Kostroma kennen, einer Stadt an der dort 500 m breiten Wolga, wo die Menschen ihre Wäsche heute noch per Hand im Fluss waschen.
Bei einer Russland-Fahrt darf natürlich auch ein Besuch Moskaus nicht fehlen – wegen der vierstündigen Fahrtzeit mussten wir hierzu bereits um fünf Uhr morgens aufbrechen. Zuerst standen der Kreml und der Rote Platz auf unserem Programm – vermutlich zwei der am besten bewachtesten Orte der Welt. Sicherheitskräfte gestatteten uns mit unseren Instrumenten gerade einmal ein kurzes Rondeveau mit dem Roten Platz und der Basilius-Kathedrale. Auch die immensen Sicherheitsvorkehrungen beim Besuch des Lenin-Mausoleums hätten wir nicht einmal an einem internationalen Flughafen erwartet. In Moskau merkten wir aber auch, wie groß der Unterschied zwischen arm und reich in Russland ist, denn die Stadt mit ihren Einwohnern ist nicht von europäischen Großstädten wie Paris oder Berlin zu unterscheiden. Große Kaufhäuser wie das GUM, westliche Autos und elegant gekleidete Menschen gehören hier zum Alltag – ganz im Gegensatz zu den russischen Gegenden, die wir bei unseren anderen Ausflügen sahen. Unser Besuch in der russischen Hauptstadt klang mit einem Besuch des Russischen Staatszirkus aus, von dessen höchst professionellen Darbietungen wir alle hingerissen waren. Da war es auch zu verkraften, dass wir erst um zwei Uhr nachts wieder wir mit unserem Ikarus in Rostow ankamen und todmüde ins Bett fielen.
Hauptbestandteil der Fahrt stellte neben den vielen Exkursionen natürlich aus Musizieren dar – schließlich waren wir auf Einladung der Rostower Musikschule in Russland. Ein Höhepunkt der Reise war dann auch unser gemeinsames Konzert mit der örtlichen Folkloregruppe sowie einem Chor. Hierfür hatten wir in mehreren Proben vor Ort unter anderem auch zwei russische Volkslieder eingeübt, mit denen wir uns musikalisch beim Publikum für die Gastfreundschaft bedankten. Mit frenetischem Applaus wurde dies honoriert. Im ersten Teil des Konzerts standen außerdem einige geistliche Werke sowie mehrere deutsche Volkslieder auf dem Programm; im zweiten Teil konnten wir das Publikum mit Pop- und Jazz-Arrangements von unserer Vielseitigkeit überzeugen. Zum Abschluss bekam jeder der etwa 200 Konzertbesucher ein kleines Präsent von uns überreicht, wobei es sich vornehmlich um einfache Dinge wie Feuerzeuge oder Kugelschreiber handelte, die in Deutschland wohl kaum jemanden beeindruckt hätten. Unsere russischen Gastgeber hingegen unterstrichen ihre Freude über unseren Besuch mit mehreren Zugabe-Wünschen und ernannten unseren Chorleiter Ulrich Meiß kurzerhand sogar zum Ehrenbürger Rostows. Wir allen waren an diesem Abend einmal mehr von der Herzlichkeit der Menschen überwältigt und spätestens während des Konzerts wurde jedem von uns klar, dass diese Fahrt mehr darstellte als einen einfachen Sightseeing-Trip. Unsere Musik war es, die von den Menschen verstanden wurde und unsere Bereitschaft, nach Rostow zu kommen, rechnete man uns hoch an. Nach dem Konzert gab es ein gemeinsames Essen mit Vertretern der Stadt Rostow, bei dem auch die Möglichkeit bestand, Kontakte mit englisch sprechenden Bürgern der Stadt zu knüpfen.
Es gäbe noch viel mehr von dieser Reise zu erzählen, bei der wir in 10 Tagen insgesamt fast 6000 km mit Bahn und Bus zurückgelegt haben. Jeder von uns hat sicherlich seine eigenen Eindrücke aus einem Land mitgenommen, dessen Faszination sich aus Gastfreundschaft und kulturellem Erbe zusammensetzt, aber alle haben wir erlebt, wie wertvoll diese Reise für uns war – eine Reise, die man sonst nirgendwo buchen kann.
Dirk von Sierakowsky